Krizanits, Joana (2023): Organized Mass Killings in a Forest Near Sopron of Hungarian Jews Deported to East Wall Forced Labor Camps
Zeitschrift für Genozidforschung
21. Jahrgang 2023, Heft 2
Institut für Diaspora- und Genozidforschung
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Nach dem Tod unserer Mutter fiel mir 2013 die Original-Chronik meines Urgroßvaters väterlicherseits in die Hände, in der dieser – ein Bauer im damals deutschsprachigen Dorf Holling/Fertőboz am Neusiedler See – zwischen 1889 und 1946 aufschrieb, was ihm wichtig war. Unter den unzähligen Eintragungen zu Fruchtstand, Wetter, Preisen und dörflichen Ereignissen findet sich auch die Eintragung: »Am 15. Jänner wurden 1.000 Juden hinaufgetrieben, wohin wissen wir nicht«.
Die Gerüchte über Massenmorde im benachbarten Wald des Grafen Széchenyi, zwischen Nagycenk, Hidegség und Fertőboz gelegen, von denen ich auf Nachfrage 2013 erfuhr, ließen mir keine Ruhe. Waren anfangs kaum Informationen über dieses vergessene Kapitel des Genozids an den ungarischen Juden vorhanden, erschlossen mir ab 2019 die allgemein zugängliche Datenbank degob.hu und der Fortschritt in den Übersetzungsprogrammen Google Translate und später DeepL eine völlig neue, bis heute nicht systematisch ausgewertete, Quelle von Primärdaten. Daraus, aus militärischen Luftbildaufnahmen und Sekundärquellen lassen sich organisierte Massenmorde bislang unbekannten Ausmaßes, Orte vermutlicher Massengräber und Täterstrukturen rekonstruieren. Auftraggeber und Drahtzieher dieser in industrieller Arbeitsteilung ausgeführten, systematischen Massenmorde waren die Einsatzgruppe F, das Eichmann-Kommando und letztlich Kaltenbrunner; die Ausführenden waren SS-Einsatzkommandos; Mittäter waren SA, andere SS, sogenannte Volksdeutsche, ungarische Pfeilkreuzler und wiederholt Mitglieder des sogenannten Volkssturms.
Über 10.000 Opfer dürften dort, im heute unzugänglichen, als »Landschaftsschutzgebiet« ausgewiesenen Wald begraben sein, einen Kilometer Luftlinie entfernt vom vielbefahrenen Europa-Radweg um den Neusiedler See.